"Genau hinschauen, was für ein menschenwürdiges Leben für alle nötig wäre"
Der "Zwischenruf" von Oberkirchenrätin Bachler im Wortlaut:
Kürzlich erinnerte mich eine Freundin an das Spiel: Ich seh, ich seh, was du nicht siehst. Kinder spielen es gerne, sie wählen einen Gegenstand in einer bestimmten Farbe, der von anderen erraten oder entdeckt werden soll. Mir gefällt dabei die große Aufmerksamkeit für die Umgebung, die das Spiel erfordert. Jedes Detail wird wichtig und könnte das richtige sein. Diese genial-kindliche Wachheit wünsche ich mir heute unter uns Erwachsenen.
Gibt es doch viele Dinge, die erst bei genauem Hinsehen erkannt werden, oder die nur von manchen, aufmerksamen Menschen gesehen werden. Wo sollen wir heute genau hinschauen? Ist es der immer neue Versuch, im eigenen Bereich Frieden zu halten, ist es das Bemühen, Menschen, die Hilfe brauchen, nicht abzuweisen, oder ist es das ständige Einüben darin, die Meinung des anderen zu respektieren?
Vor genau 20 Jahren haben die damals 14 Kirchen, heute sind es 17, die dem ökumenischen Rat der Kirchen in Österreich angehören, sich etwas Besonderes vorgenommen: Sie haben genau hingeschaut, was für ein menschenwürdiges Leben für alle nötig wäre. Daraus ist das sogenannte Sozialwort des Ökumenischen Rates der Kirchen in Österreich entstanden.
Das Sozialwort versteht sich als Kompass in einer Gesellschaft, die sich schon damals in einem umfassenden Wandel befand: Besonders in den Bereichen Bildung, Medien, Arbeit, Wirtschaft, soziale Sicherheit und Ökologie.
Das Sozialwort benennt zum Beispiel die soziale Ungerechtigkeit: So tragen Frauen die Hauptlast der Arbeit in Familie und Wirtschaft, verdienen jedoch weniger als Männer. Und Frauen verfügen seltener über Besitz und Vermögen.
Das Sozialwort weist auf die Gefahr von Armut trotz Erwerbsarbeit hin und warnt davor, Migrantinnen und Migranten als billige Erwerbsarbeitskräfte zu sehen. Denn oft werden Saisonarbeiter und Saisonarbeiterinnen behandelt, als wären sie eine Sache.
Festgestellt wurde auch, dass zwanzig Prozent der Bevölkerung rund drei Viertel der Ressourcen verbrauchen.
Wenn Menschen heute über die Relevanz der Kirchen diskutieren, so finde ich es bemerkenswert, dass die Kirchen schon vor zwanzig Jahren von der Option für die von Armut betroffenen Menschen sprachen, deren Stimme sie sein wollen. Sie sprachen schon damals davon, die Würde, und das Wohl jedes Menschen zu achten, und Defizite laut und deutlich auszusprechen.
Bei diesem Thema empfinde ich manchen Gedanken des Sozialwortes als fortschrittlicher als wir es jetzt zwei Jahrzehnte später erleben.
So benennt das Sozialwort die Themen Friede und Gerechtigkeit ganz klar. Es stellt aber auch die Frage, unter welchen Bedingungen, Christinnen und Christen die Anwendung von Gewalt als letztes Mittel erlaubt ist, oder ob die Kirchen vom Evangelium Jesu Christi her aufgerufen sind, militärischer Gewalt ausnahmslos abzusagen?
Das ökumenische Sozialwort soll den Weg bahnen, in einer solidarischen Gesellschaft zu leben. Wenn das gelingt, können Menschen einander ermöglichen, etwas zu sehen, von der Herrlichkeit Gottes - theologisch gesprochen.
Das Kinderspiel: Ich seh, ich seh, was du nicht siehst, ist also auch ein gewinnbringendes Spiel für Erwachsene.