Sozialethiker Schlagnitweit: Die Wirtschaft muss dem Gemeinwohl dienen
Die Wirtschaft ist kein Selbstzweck, sondern muss dem Gemeinwohl dienen. Das hat der Direktor der Katholischen Sozialakademie Österreich (ksoe), Markus Schlagnitweit betont. Schlagnitweit hielt am Dienstag (Reformationstag) eine Gastpredigt beim Reformationsgottesdienst in der Linzer Martin-Luther-Kirche. Die Gastpredigt fand im Rahmen des ökumenischen Projekts "Sozialwort 20+" des Ökumenischen Rates der Kirchen in Österreich (ÖRKÖ) statt.
Der Gottesdienst zum Nachsehen (via Youtube)
"Es gibt kein gutes Leben und kein gutes Zusammenleben auf diesen Wegen ohne sachgerechte, menschengerechte und gesellschaftsgerechte Wirtschaft", hielt Schlagnitweit fest: "Es gibt kein gutes Leben ohne funktionierende Märkte und auch nicht ohne die Kreativität und die mit persönlicher Verantwortung gepaarter Risikobereitschaft unternehmerisch agierender Persönlichkeiten."
Aber: Die Wirtschaft sei kein Selbstzweck, Ziele sei nicht primär Gewinn, Umsatzwachstum oder auch nur Wettbewerb, sondern die Versorgung der Gesellschaft mit den lebensnotwendigen Gütern und Dienstleistungen. Die Wirtschaft sichert vor allem die materiellen Grundlagen, "ohne die es nun einmal nicht geht", aber die Wirtschaft sei nicht wichtiger oder vorrangiger als andere Teilbereiche der Gesellschaft, "die alle miteinander verantwortlich sind für ein gutes, gelingendes Zusammenleben der Menschen". Genau das habe auch schon das "Ökumenische Sozialwort" vor 20 Jahren betont, wonach in die wirtschaftlichen Zusammenhänge u.a. immer auch die Belange zukünftiger Generationen und der Umwelt mit einbezogen werden müssten.
20 Jahre "Ökumenisches Sozialwort"
Vor 20 Jahren haben die Kirchen in Österreich mit dem "Sozialwort" ein ökumenisches Dokument veröffentlicht, das den gesellschaftspolitischen Auftrag der Kirchen auf der Basis des gemeinsamen Glaubens deutlich machte. Das "Sozialwort" war zuvor in einem vierjährigen Prozess mit mehr als tausend Einzelpersonen, gut 100 Organisationen und einem großen Team der damaligen Katholischen Sozialakademie erstellt worden. Es war als "Kompass" für die Kirchen und die Gesellschaft gedacht. Die großen Themenblöcke waren Bildung, Medien, sozialer Zusammenhalt, Lebensräume Land/Stadt/Europa, Arbeit, Wirtschaft, soziale Sicherheit, Frieden, Gerechtigkeit sowie Schöpfungsverantwortung und Nachhaltigkeit.
Unentgeltliche Wirtschaftsleistungen
ksoe-Direktor Schlagnitweit erinnerte in seiner Gastpredigt, dass schon im "Sozialwort" kritisch vermerkt sei, dass in der öffentlichen Wahrnehmung oft ein Begriff von Wirtschaft dominant sei, der rein auf marktwirtschaftliche Prozesse beschränkt bleibt. Das "Sozialwort" betone dagegen, dass Wirtschaft mehr sei als nur das, was in Geld bewertet und nach den Kriterien des Marktes organisiert werden könne. Wirtschaftsleistungen würden etwa auch in öffentlichen Einrichtungen wie Schulen, im Gesundheits- oder Justizwesen erbracht, ebenso bei der Erziehung der Kinder und Pflege kranker und alter Menschen, auch wenn diese Aufgaben nicht bezahlt werden. Was ihm, so Schlagnitweit, in dieser Aufzählung des "Sozialworts" noch fehle, sei der große Bereich des freiwillig und unentgeltlich Engagements in Vereinen, Hilfsorganisationen und gemeinnützigen Einrichtungen.
Immateriellen Voraussetzungen
Wie der ksoe-Direktor weiter ausführte, lebe die Wirtschaft zudem von immateriellen Voraussetzungen: "Erziehung und Bildung, öffentliche Güter, soziale Sicherheit und Rechtssicherheit, moralische Werte wie Vertrauen, Fairness, Vertragstreue, Zusammenhalt und Solidarität. - All das kann der Markt nicht automatisch aus sich selbst heraus generieren und bereitstellen", so Schlagnitweit: "Der Mensch lebt bekanntlich nicht nur vom Brot allein. Und das gilt auch für Gesellschaften insgesamt."
Sozialer und ökologischer Fußabdruck
Das "Ökumenische Sozialwort" würde - heute veröffentlicht - den Fokus wohl noch deutlicher auf bestimmte Themen legen, zeigte sich Schlagnitweit überzeugt. "Es würde den Fokus noch stärker auf die ungebremst wachsenden sozialen und ökologischen Verwerfungen unserer Zeit legen, auf die moderne Ziel-blinde und Selbstzweck-behaftete Wirtschaftsweise." Das "Sozialwort" würde das rein quantitatives Wachstumsparadigma kritisch infrage stellen. Ein "Ökumenisches Sozialwort" würde heute ebenso mit Blick auf den sozialen und ökologischen Fußabdruck des Konsum-getriebenen westlichen Lebensstils Fragen der internationalen Gerechtigkeit stellen.
Und vor dem Hintergrund der aktuell so vehement aufflammenden weltweiten kriegerischen Auseinandersetzungen würde das "Sozialwort" wohl auch Kritik üben an einer rein von ökonomischen Interessen getriebenen Globalisierung, so Schlagnitweit. Das Argument der Friedenssicherung durch internationale Arbeitsteilung und durch gegenseitige wirtschaftliche Verflechtungen und Abhängigkeiten halte offensichtlich nicht, was es versprochen habe. Und es stelle sich deshalb die Frage, "ob viele der kriegerischen Konflikte, die wir erleben, an ihrer Wurzel nicht wirtschaftliche Interessenkonflikte sind. Im Kampf um Absatzmärkte und um die Ausbeutung immer knapper werdender Rohstoffe und Ressourcen." Dabei gerate immer mehr in Vergessenheit, wozu die Wirtschaft letztlich da sein solle, warnte der ksoe-Direktor.
Im Rahmen der ÖRKÖ-Impuls-Reihe "Sozialwort 20+" geben in Gottesdiensten in ganz Österreich Gäste aus jeweils anderen Kirchen kurze aktuelle Impulse zu wesentlichen Themen des "Sozialworts" bzw. greifen auch bisher noch fehlende aktuelle Themen auf. Das Projekt ist zumindest bis zur Gebetswoche für die Einheit der Christen (18. bis 25. Jänner 2024) anberaumt. Die gesammelten Impulse sollen abschließend in einer Broschüre gemeinsam mit einigen begleitenden Aufsätzen von Theologinnen und Theologen und anderen Expertinnen und Experten veröffentlicht werden.
Die Predigt von Markus Schlagnitweit im Wortlaut:
Schwestern und Brüder! Zum 20-Jahr-Gedenken des Ökumenischen Sozialworts 2003 über „Wirtschaft“ zu predigen, wurde mir als Aufgabe gestellt. Nun, ich könnte es ganz kurz machen: Gott hat uns Menschen seine Schöpfung anvertraut, um sie zu hüten und zu bebauen und gut davon und in ihr zu leben. Und weil uns die gebratenen Hühner eben nicht gleich in den Mund fliegen, braucht es für ein gutes Leben halt Arbeit, also die Verwandlung der Natur in Lebensmittel im weitesten Sinn des Wortes. Dieses Handeln nennen wir Wirtschaft. Und weil Gott uns dafür nur diesen einen Planeten Erde anvertraut hat, gilt es, sorgsam, klug und weitsichtig zu wirtschaften. Eigentlich ganz einfach. Ist es mit Blick auf die Realität aber ganz offensichtlich nicht.
„Was ist Sinn und Zweck von Wirtschaft?“ – Diese einfach scheinende Frage stellte ich einem Auditorium aus vorwiegend unternehmerisch tätigen Menschen im WIFI OÖ., als ich dort vor einigen Jahren als Vortragender zu Gast war. Die Antworten kamen wie aus der Pistole geschossen: „Gewinne erzielen“, „im Wettbewerb vorne bleiben“, „Wachstum“, „Arbeitsplätze schaffen“, „den Umsatz steigern“ – so und so ähnlich. Ich verneinte und wiederholte meine Frage immer wieder: „Was ist Sinn und Zweck der Wirtschaft?“
Warum ich mich mit den erhaltenen Antworten nicht zufrieden gab? Weil hier Weg und Ziel, Methode und Zweck miteinander verwechselt wurden! Für den Erfolg und Bestand eines wirtschaftlichen Unternehmens mag es zwar notwendig sein, zu wachsen, Gewinne zu erzielen und im Wettbewerb vorne mit dabei zu sein; aber das kann doch niemals ein Selbstzweck sein! Das sind wichtige Mittel, um auf dem Weg zu bleiben, aber sie sind doch niemals das Ziel selbst. Hat es denn einen Sinn, schneller voranzukommen, wenn ich nicht einmal angeben kann, wo ich überhaupt hin will? Hat es einen Sinn, möglichst alt zu werden, wenn ich schon nach einem halben Tag Regenwetter nichts mit meinem Leben anzufangen weiß? – Geschwindigkeit, Zeit, Sparsamkeit, Effizienz etc. – das ist zwar alles klar und deutlich mess- und steigerbar. Aber das enthebt mich noch nicht der Beantwortung der Frage: „Wozu das alles? Trägt es bei zu einem besseren, schöneren, sinnvolleren Leben?“
Gefühlte 5 Minuten hat es damals bei dieser Veranstaltung im WIFI gedauert, bis sich jemand gemeldet und betont nachdenklich gemeint hat: „Sollte es nicht Aufgabe und Ziel der Wirtschaft sein, die Gesellschaft mit den zu einem guten Leben notwendigen Gütern und Dienstleistungen zu versorgen, und zwar möglichst effizient, also mit optimalem Output unter geringstmöglichem Verbrauch von Ressourcen?“ – Bingo! So in etwa hat es vor knapp 2½-tausend Jahren auch schon Aristoteles auf den Punkt gebracht.
Aristoteles hat die Wirtschaft damit eingeordnet in einen größeren gesellschaftlichen Zusammenhang und ihr damit einen klaren Sinn und Zweck zugewiesen: So wie etwa die Politik nicht Wahlen zu gewinnen, sondern divergierende Interessen in einer Gesellschaft in einen gerechten Ausgleich zu bringen hat, so wie die Justiz nicht primär die Aufgabe hat, Übeltäter zu bestrafen, sondern das soziale Leben auf der Basis von Recht und Gesetz zu ordnen, so wie Religion, Kunst und Kultur nicht primär nur für Unterhaltung und Freizeitgestaltung zuständig sind, sondern die Ausrichtung einer Gesellschaft auf nicht-materielle Werte auf der Ebene des Guten, Wahren und Schönen wachhalten, so ist Aufgabe, Sinn und Zweck der Wirtschaft nicht primär Umsatzwachstum oder Wettbewerb, sondern die Versorgung der Gesellschaft mit lebensnotwendigen Gütern und Dienstleistungen. Das ist eine unverzichtbare, wichtige Funktion innerhalb des gesellschaftlichen Gefüges und sichert v.a. die materielle Grundlage allen Lebens, ohne die es nun einmal gar nicht ginge. Aber die Wirtschaft ist deshalb nicht wichtiger oder vorrangiger als andere Teilbereiche der Gesellschaft, die alle miteinander verantwortlich sind für ein gutes, gelingendes Zusammenleben der Menschen.
Das würdigt auch das Ökumenische Sozialwort 2003, wenn es gleich anfangs des Kapitels „Wirtschaft“ betont: „(187) Wirtschaft ist auf menschliches Leben ausgerichtet. Das bedeutet: Wirtschaft muss nicht nur sachgerecht, sondern auch menschen- und gesellschaftsgerecht sein und die Belange zukünftiger Generationen und der Umwelt mit einbeziehen.“
Worauf das Ökumenische Sozialwort in weiterer Folge kritisch fokussiert, ist freilich die Tatsache, dass in der öffentlichen Wahrnehmung – damals vor 20 Jahren wie heute! – oft ein Begriff von Wirtschaft dominant ist, der auf marktwirtschaftliche Prozesse beschränkt bleibt.
Das Ökumenische Sozialwort betont dagegen: Wirtschaft ist „(190) … mehr als das, was in Geld bewertet und nach den Kriterien des Marktes organisiert wird. Wirtschaftsleistungen werden auch in öffentlichen Einrichtungen wie Schulen, im Gesundheits- oder Justizwesen erbracht. Leistungen der privaten Haushalte wie Erziehung der Kinder oder Pflege kranker und alter Menschen haben wirtschaftlichen Wert, auch wenn sie nicht bezahlt werden. Soziale Dienste von Wohlfahrtsverbänden oder Kulturinitiativen haben wirtschaftliche Bedeutung. Diese gemeinwohl-orientierten Bereiche der Wirtschaft sind Voraussetzung für das Funktionieren der formellen Wirtschaft. Sie machen ein ‚Leben in Würde‘ und eine gute Versorgung für alle erst möglich.“ Was mir in dieser Aufzählung übrigens fehlt, ist der gesamte Bereich freiwillig und unentgeltlich erbrachter Leistungen in Vereinen, Hilfsorganisationen und gemeinnützigen Einrichten: Da steckt oft ein hohes Maß an Zeitressourcen, Fachkompetenzen und Lebensenergie drinnen; und auch das ist Wirtschaft, weil hier Güter und Dienstleistungen mit hohem persönlichen wie gesellschaftlichen Mehrwert erbracht werden.
Wirtschaft ist also mehr als das, was in Geld oder wirtschaftlichen Leistungsparametern gemessen werden kann. Und es ist keineswegs so, dass die markt- und gewinnorientierte Privatwirtschaft erst die materielle Grundlage für das alles schafft. Letztlich lebt auch „die Wirtschaft“ von immateriellen Voraussetzungen, die der Markt nicht automatisch aus sich selbst heraus generiert und bereitstellt: Erziehung und Bildung, natürliche Ressourcen und öffentliche Güter, soziale und Rechtssicherheit, moralische Werte wie Vertrauen, Fairness, Zusammenhalt und Solidarität etc. – Letztlich lässt sich von hier eine gute Brücke schlagen zur Schriftlesung aus Jesaja: Hier wird u.a. kritisch eine Wirtschaft in den Blick genommen, in der gegen Geld und Arbeitsmühe zwar vieles gekauft und bezahlt werden kann, ohne dass dieses aber wirklich nährt und satt macht. Der Mensch lebt halt bekanntlich nicht nur vom Brot allein. Das gilt auch für Gesellschaften insgesamt.
Das Ökumenische Sozialwort hat also vor 20 Jahren bereits auf Zusammenhänge hingewiesen, die bis heute ungebrochene Gültigkeit besitzen. Und man muss hinzufügen: Leider ist diese Gültigkeit seit damals noch bedrängender geworden. Wahrscheinlich würde ein Ökumenisches Sozialwort seinen Fokus heute noch deutlicher auf bestimmte Themen legen: Es würde vermutlich mit Verweis auf die ungebremst wachsenden sozialen und ökologischen Verwerfungen unserer zielblinden und selbstzweckhaften modernen Wirtschaftsweise deren rein quantitatives Wachstumsparadigma infrage stellen; es würde mit Blick auf den sozialen und ökologischen Fußabdruck unseres konsumgetriebenen westlichen Lebensstils Fragen der internationalen Gerechtigkeit aufwerfen. Und vor dem Hintergrund der aktuell so vehement aufflammenden kriegerischen Auseinandersetzungen würde es vielleicht auch Kritik an einer rein von ökonomischen Interessen getriebenen Globalisierung üben: Das Argument der Friedenssicherung durch internationale Arbeitsteilung und gegenseitige wirtschaftliche Abhängigkeiten hält ganz offensichtlich nicht, was es versprochen hat, und es stellt sich desto lauter die Frage, ob viele kriegerische Konflikte an ihrer Wurzel nicht wirtschaftliche Interessenkonflikte sind im Kampf um Absatzmärkte und um die Ausbeutung immer knapper werdender Rohstoffressourcen.
Dennoch – und das sei ausdrücklich festgehalten: Es gibt kein gutes Leben und Zusammenleben auf dieser Welt ohne sach-, menschen- und gesellschaftsgerechte Wirtschaft: also nicht ohne die weltweit ineinandergreifenden Anstrengungen wirtschaftlich arbeitender Menschen, nicht ohne funktionierende Märkte und nicht ohne die Kreativität, Fantasie und mit persönlicher Verantwortung gepaarte Risikobereitschaft unternehmerisch agierender Persönlichkeiten. V.a. aber braucht es eine Wirtschaft, die genau weiß und niemals vergisst, wozu es sie gibt: nicht um ihrer selbst willen, sondern im Dienste des Gemeinwohls, das ein namhafter Vertreter der Katholischen Soziallehre einmal so definiert hat: „das größtmögliche Glück der größtmöglichen Zahl unter vorrangiger Beachtung der vitalen Grundbedürfnisse aller Einzelnen und insbesondere der Ärmeren und Schwächeren in Gegenwart und Zukunft.“