"Diese Krankheit ist nicht zum Tode"
Die Bibelstelle im Gottesdienst (Joh 11)
Es lag aber einer krank, Lazarus aus Betanien, dem Dorf Marias und ihrer Schwester Marta. Da sandten die Schwestern zu Jesus und ließen ihm sagen: Herr, siehe, der, den du lieb hast, liegt krank. Als Jesus das hörte, sprach er: Diese Krankheit ist nicht zum Tode, sondern zur Verherrlichung Gottes, dass der Sohn Gottes dadurch verherrlicht werde. Jesus aber hatte Marta lieb und ihre Schwester und Lazarus. Als er nun hörte, dass er krank war, blieb er noch zwei Tage an dem Ort, wo er war. Danach spricht er zu den Jüngern: Lasst uns wieder nach Judäa ziehen!
Da kam Jesus und fand Lazarus schon vier Tage im Grabe liegen. Betanien aber war nahe bei Jerusalem, etwa fünfzehn Stadien entfernt. Viele Juden aber waren zu Marta und Maria gekommen, sie zu trösten wegen ihres Bruders. Als Marta nun hörte, dass Jesus kommt, ging sie ihm entgegen; Maria aber blieb im Haus sitzen. Da sprach Marta zu Jesus: Herr, wärst du hier gewesen, mein Bruder wäre nicht gestorben. Aber auch jetzt weiß ich: Was du bittest von Gott, das wird dir Gott geben. Jesus spricht zu ihr: Dein Bruder wird auferstehen. Marta spricht zu ihm: Ich weiß, dass er auferstehen wird bei der Auferstehung am Jüngsten Tage. Jesus spricht zu ihr: Ich bin die Auferstehung und das Leben. Wer an mich glaubt, der wird leben, ob er gleich stürbe; und wer da lebt und glaubt an mich, der wird nimmermehr sterben. Glaubst du das? Sie spricht zu ihm: Ja, Herr, ich glaube, dass du der Christus bist, der Sohn Gottes, der in die Welt kommt.
Das Grab war aber eine Höhle, und ein Stein lag davor. 39Jesus spricht: Hebt den Stein weg! Spricht zu ihm Marta, die Schwester des Verstorbenen: Herr, er stinkt schon; denn er liegt seit vier Tagen. Jesus spricht zu ihr: Habe ich dir nicht gesagt: Wenn du glaubst, wirst du die Herrlichkeit Gottes sehen? Da hoben sie den Stein weg. Jesus aber hob seine Augen auf und sprach: Vater, ich danke dir, dass du mich erhört hast. Ich wusste, dass du mich allezeit hörst; aber um des Volkes willen, das umhersteht, sagte ich’s, damit sie glauben, dass du mich gesandt hast. Als er das gesagt hatte, rief er mit lauter Stimme: Lazarus, komm heraus! Und der Verstorbene kam heraus, gebunden mit Grabtüchern an Füßen und Händen, und sein Gesicht war verhüllt mit einem Schweißtuch. Jesus spricht zu ihnen: Löst die Binden und lasst ihn gehen! Viele nun von den Juden, die zu Maria gekommen waren und sahen, was Jesus tat, glaubten an ihn.
Die Predigt von Prof. Guggenberger
Es lag aber einer krank. Die Evangelienstelle spricht von einem konkreten Menschen, von Lazarus, dem Freund Jesu. Dürfen oder sollen wir diesen Satz aber nicht auch allegorisch-symbolisch lesen, angesichts dessen was in der Welt um uns vor sich geht? Liegt nicht auch diese Welt krank?
Heuer, 2023, wird österreichweit daran gedacht, dass vor 20 Jahren ein ökumenisches Sozialwort veröffentlicht wurde, gemeinsam von 14 christlichen Kirchen erarbeitet. Ziel dieses Textes und des damit verbundenen intensiven Gesprächsprozesses war die Förderung des christlichen Engagements in unserem Land, des Engagements für ein menschenwürdiges Leben für alle und für einen sorgsamen Umgang mit der Schöpfung. Die Ziele von damals sind nach wie vor gültig, doch leider erscheinen viele von ihnen nach zwei Jahrzehnten als reiner Wunschtraum. Der soziale Friede im Land ist vielfach gefährdet, im Hinblick auf internationale Gerechtigkeit waren wir schon einmal weiter. Armut bleibt ein drängendes Thema, in Österreich und weltweit. Krieg etabliert sich zusehends wieder als Normalzustand. Mitten in der Schöpfungszeit, die die christlichen Kirchen vom 1. September bis zum 4. Oktober begehen, stehen uns die Naturkatastrophen dieses Sommers vor Augen: Dürre und Brände, Unwetter und Flutereignisse – vieles davon zumindest menschlich mitverursacht. Gerade da drängt sich doch die Assoziation auf: Auch unser ganzer Planet liegt krank?
Man spricht ja mitunter tatsächlich vom Fieber, an dem die Erde leidet, und dieses Fieber ist nicht heilsam, weil seine Ursachen ständig weiter verschärft werden. Viele Menschen sind deswegen alarmiert. Sie rufen sozusagen um Hilfe, warnen als WissenschaftlerInnen, halten Vorträge und veröffentlichen Studien, lancieren als Medienleute geradezu apokalyptische Beiträge oder kleben sich als AktivistInnen auf Straßen fest. Das verweist auf den Ernst der Lage, nervt mitunter aber auch, überfordert auch emotional – niemand kann permanent in einem Alarmzustand leben. Und letztlich gilt doch auch hier: Diese Krankheit ist nicht zum Tode. Ja, der Klimawandel macht Probleme, aber die Welt geht davon nicht unter, zumindest nicht unsere Welt hier in Innsbruck.
Können wir uns als Christinnen und Christen also sogar auf Jesus selbst berufen, wenn wir sagen: Cool down, so schlimm wird das mit der Erderwärmung schon nicht kommen, überstürzen wir nichts, denn bei allem Recht der kommenden Generationen auf ein gutes Leben, wir wollen und dürfen ein solches schließlich auch noch haben. Also: keine Panik. Auf der anderen Seite lassen sich die gesteckten Ziele - 1,5 Grad Erderwärmung, Schutz der meisten Tier- und Pflanzenarten - vermutlich eh nicht mehr erreichen. Also wozu die Hektik, die bringt uns eher noch mehr in Gefahr, durch politischen Streit und Extremismus. Wenn Gott uns retten will, wird er das schon tun, aber für Wunder sind nicht wir zuständig. Vertrauen wir darauf, dass diese Krankheit schon nicht zum Tod führen wird. Ist es legitim so zu argumentieren, oder missbrauchen wir damit das Evangelium nicht eher, um uns nicht in dem stören zu lassen, woran wir uns so schön gewöhnt haben?
Lassen Sie mich an dieser Stelle auf einen der bekanntesten Sätze von Martin Luther zurückgreifen, der nur leider gar nicht von Martin Luther stammt, die altbekannte Sache mit dem Apfelbäumchen: „Wenn ich wüsste, dass morgen die Welt untergeht, würde ich heute noch ein Apfelbäumchen pflanzen.“ Der Satz ist in der Nachkriegszeit zunächst in der evangelischen Kirche Deutschlands populär geworden, und trotz seiner unklaren Herkunft halte ich ihn für überaus interessant. Natürlich, die Aussage ist irgendwie verrückt. Wenn ich wirklich wüsste, dass morgen alles vorbei sein wird, dann macht es absolut keinen Sinn, noch einen Baum zu pflanzen, der Jahre braucht, um Früchte zu bringen. Ich habe auch einmal eine Version des Satzes gelesen, in dem zum Bäumchenpflanzen noch hinzugefügt war: „… und ich würde meinem Nachbarn meine Schulden zurückzahlen.“ Auch das ziemlich bescheuert. Der Nachbar hat davon doch gar nichts, schließlich wird er sich übermorgen von dem Geld auch nichts mehr kaufen können.
Trotzdem mag ich diesen Satz und seine Logik, muss allerdings zugeben: Ohne religiösen Glauben, wäre er wirklich nur absurd. Denn was hier gesagt wird, hat herzlich wenig mit Ethik zu tun. Zumindest dann, wenn Ethik auf ein Ergebnis zielt, wenn es ihr darum geht irgendeinen Zustand herzustellen, konkret eben eine Gesellschaft, die unsere Umwelt nicht weiter ausbeutet und zerstört, in der weniger Verkehr herrscht und Konsum weniger wichtig ist, eine Wirtschaft, die CO2-neutral funktioniert, von der alle Beteiligten etwas haben und zwar nicht die einen bloß Belastung und Abfall und die anderen den meisten Gewinn usw. usw. Verstehen sie mich nicht falsch: all das sind sehr wichtige Ziele, an deren Realisierung wir arbeiten müssen. Aber wir werden dabei nicht nur viel Geduld nötig haben, wie es in der Epistellesung hieß, wir werden auch immer wieder die enttäuschende Erfahrung machen, dass wir scheitern. Und vor allem: all diese Ziele verlieren ihren Sinn am Vorabend des Weltuntergangs. Es sei denn … Es sei denn, es geht gar nicht nur um die Herstellung eines Zustands, sondern darum, was – besser - wer aus den Menschen wird die da handeln und von diesem Handeln betroffen sind, in ihrem Tun und Erleiden. Und das wiederum ist nur bedeutsam, wenn etwas davon erhalten bleiben wird, was bzw. wer wir geworden sind; selbst dann, wenn die Welt untergehen sollte.
Ja, ich weiß, ich springe jetzt vielleicht etwas unvermittelt hin und her zwischen Diesseits und Jenseits, zwischen der Welt in der wir jetzt leben, mit all ihrer Schönheit und all ihrer Not, für die wir verantwortlich sind und der kommenden Welt, auf die wir in unserem Glauben hoffen. Aber ist es nicht gerade das, was auch die Evangelienstelle von der Auferweckung des Lazarus tut?
Das irdische Leben des Lazarus ist zu Ende und zwar eindeutig. Da ist nichts mehr zu retten, sein Leichnam beginnt schon zu verwesen. Da spricht Jesus von Auferstehung und Marta versteht zu Recht die Auferstehung in der jenseitigen Welt. Sie hält sich an die Hoffnung auf ein Leben danach. Wenn Jesus dann sagt: „Wer an mich glaubt, der wird leben, ob er gleich stürbe; und wer da lebt und glaubt an mich, der wird nimmermehr sterben“, ist schon nicht mehr so klar von welcher Seite dieser Grenze zwischen Diesseits und Jenseits er spricht. Diese Grenze scheint fast bedeutungslos zu werden. Und dann, dann ruft er den Toten aus seinem Grab.
Doch Lazarus wird nicht in ein ewiges Dasein in dieser Welt gerufen, er kommt zurück in seine irdische Existenz. Darin wird er weiter altern und irgendwann wieder sterben, endgültig nach irdischen Maßstäben. Wozu also das Ganze? Wozu die Auferweckung eines einzelnen Menschen angesichts all der Tode, die tagtäglich gestorben werden? Wozu die Auferweckung in eine Vorläufigkeit hinein, deren Ende unausweichlich bleibt?
Ganz ähnlich mögen wir uns fragen: Wozu sollen wir uns engagieren für eine Welt die ohnedies, nun ja vielleicht nicht morgen, aber früher oder später jedenfalls ja doch untergeht? Warum soll ich mich um etwas bemühen, dessen Erfolg höchst fragwürdig ist? Was bringt es, irgendwo punktuell eine Kleinigkeit zu verbessern, angesichts all der großen und immer größer werdenden Katastrophen?
Die Verherrlichung Gottes und der Glaube an Jesus und den himmlischen Vater, das sind die Gründe, die das Evangelium für das Handeln Jesu in Betanien nennt. Verherrlichung Gottes und Glaube an ihn; ich vermute wir lesen das mitunter etwas zu fromm, so als ginge es darum Kirchenbänke zu füllen, in denen dann Choräle gesungen werden. Auch das ist erfreulich. Bei der Verherrlichung Gottes geht es aber doch vielmehr um die dankbare Wahrnehmung und Wertschätzung der Schönheit und Würde allen Lebens, das er geschaffen hat. Im Glauben geht es letztlich darum, dass ein Mensch die Liebe Gottes annehmen kann, wenn er ihr begegnet?
Die Auferweckung des Lazarus macht die Herzen jener, die ihre Zeugen werden empfänglich für die heilende Begegnung mit Gott. Es ist in diesem Evangelium doch fast mit Händen zu greifen, was es bedeutete, dass Jesus Lazarus und seine Schwestern lieb hatte. Die Erfahrung nicht nur des Wunders, sondern insbesondere die Erfahrung echten Wohlwollens stärkt die Fähigkeit Liebe annehmen zu können und so auch den Wunsch und die Fähigkeit selbst zu lieben.
So fließen die Bedeutung dieses Ereignisses für das Diesseits und seine Bedeutung für das Jenseits ineinander. Denn Menschen, die fähig sind geliebt zu werden und zu lieben oder eben nicht, das – so glauben wir - werden wir bleiben, selbst wenn die Welt untergeht. Und so ist auch unser Einsatz für diese Welt, für den nachhaltigen Erhalt der Schöpfung als Lebensraum aller Kreaturen, unser Einsatz für mehr Gerechtigkeit und Frieden ein Einsatz für diese Welt, aber eben auch einer, der darüber hinausreicht. Dann macht es sogar Sinn am Vorabend des Weltuntergangs Bäume zu pflanzen und Schulden zu bezahlen, weil wir gerade dadurch einander zu lebendigen Gottesbeweisen werden können, in den kleinen Begegnungen des Alltags ebenso wie in den großen Strukturen der Gesellschaft.
Weder die Möglichkeit, vielleicht sogar Wahrscheinlichkeit, dass wir mit unserem Engagement scheitern oder zu spät kommen, noch die Überzeugung, dass die Krankheiten unserer Welt letztlich nicht zum Tod führen, sind somit eine Rechtfertigung dafür die Hände in den Schoß zu legen und nichts zu tun. Im Gegenteil; ein Engagement, wie es das ökumenische Sozialwort seit 20 Jahren fordert, ist uns als Christinnen und Christen bleibende Verpflichtung. Weil wir mit unserem Einsatz für die Würde aller Geschöpfe zugleich für uns selbst und für andere den Weg dazu bahnen, Menschen zu werden, denen zu begegnen Gott leicht fällt. Weil die Erfahrung des Wohlwollens uns und ihnen dadurch nicht fremd ist. Weil wir einander ermöglichen, etwas zu sehen, von der Herrlichkeit Gottes.