Gedenken an die Opfer der Novemberpogrome von 1938 (9. November 2021)
Die Erklärung im Wortlaut:
Am 9. November jähren sich wieder die unfassbaren Ereignisse der Novemberpogrome. Überall im damaligen nationalsozialistischen Machtbereich, auch in Österreich, sind in der Nacht vom 9. auf den 10. November 1938 unzählige jüdische Menschen erniedrigt, verschleppt, ermordet und fast alle jüdischen Gotteshäuser zerstört worden.
Für unser Land gilt: Was sich schon in den erbärmlichen Szenen auf Österreichs Straßen nach dem sogenannten "Anschluss" im März 1938 abgezeichnet hatte, wurde in der Nacht vom 9. auf den 10. November 1938 nur allzu deutlich: Die Absage einer fanatischen Ideologie an die Ehrfurcht vor Gott und an den Respekt vor der Würde des Menschen. Trotzdem haben viele Mitglieder der christlichen Kirchen damals geschwiegen, ja manche haben sich an den Verbrechen beteiligt.
Beschämt halten wir fest: Keine christliche Kirche kann im Rückblick auf die Geschichte von sich behaupten, sich nicht gegenüber dem Judentum schuldig gemacht zu haben. Die Geschichte von Judentum und Christentum war über weite Strecken eine Unheilsgeschichte, geprägt von einem jahrhundertelangen christlichen Antijudaismus mit oftmals gewalttätigen Auswüchsen. Für die Jüdinnen und Juden hat dies immer wieder Verfolgung und Tod bedeutet; gipfelnd in der Shoah.
Erst die Tragödie der Shoa hat für die Kirchen bzw. die christliche Theologie schließlich den entscheidenden Wendepunkt in der Definition ihrer Haltung zum Judentum markiert.
Dass wir den jüdischen Gemeinden in Österreich heute freundschaftlich verbunden sein dürfen, ist Ehre und Auftrag für uns. Wir sind dankbar für die vielfältigen Formen jüdischen Lebens in unserem Land. Zugleich sehen wir, dass der Antisemitismus in verschiedenen Formen wieder stark im Zunehmen ist. Wir warnen vor jedem Wegschauen oder Verharmlosen. Politik, Exekutive, Justiz und Zivilgesellschaft - dazu gehören auch die Kirchen - sind aufgefordert, vehement gegen Antisemitismus aufzutreten und einzuschreiten.
Wir sind alarmiert, weil sich Jüdinnen und Juden in Österreich und ganz Europa zunehmend wieder unsicher fühlen. Und wir rufen zugleich zur Wachsamkeit gegenüber jeglicher Form von Politik auf, die auf Abwertung und Ausgrenzung von Minderheiten setzt.
Unser Einsatz gegen Antisemitismus beinhaltet die bleibende Verantwortung, dass wir uns mit dem eigenen Versagen in der Vergangenheit auseinandersetzen und gegen das Vergessen wirken. Wir verpflichten uns dazu, das Gedenken an die Opfer der Shoah wachzuhalten und uns auch für das noch stärkere Sichtbarmachen von Gedenkorten einzusetzen.
Wir bitten die jüdischen Gemeinden, diese unsere Haltung als Baustein unseres ernsthaften Bemühens zu sehen, die christlich-jüdischen Beziehungen bleibend auf eine tragfähige Basis zu stellen.
Wir halten fest, dass unsere christliche Identität unlösbar mit dem jüdischen Volk und seinen Traditionen verbunden ist. Das Christentum hat seine Wurzeln im Judentum. Wir verpflichten uns zugleich dazu, unseren christlichen Glauben so zu verstehen, zu lehren und zu leben, dass dies nicht in Abwertung der jüdischen Religion geschieht, sondern in stetiger Erinnerung an Gottes Treue zu seinem erwählten Volk. Wir bekennen, dass jegliche Mission gegenüber dem jüdischen Volk verletzend und unangebracht ist, denn der Bund Gottes mit Abraham wurde nie aufgehoben und durch den Bund des Neuen Testaments auch nicht relativiert.
Wir bekennen zugleich, dass es zwischen Christentum und Judentum bei aller Verwandtschaft auch Differenzen gibt, die bei allen Dialogbemühungen und Weggemeinschaften nicht von einer Seite allein her überwunden werden können. Das darf uns aber nicht daran hindern, füreinander einzutreten, im gegenseitigen Respekt gemeinsam für die Achtung der Menschenwürde und Menschenrechte und soziale Gerechtigkeit in unserem Land und weltweit einzutreten.
Dankbar verweisen wir heute auch auf die vielen Impulse, die in all den zuvor angeführten Hinsichten vom Koordinierungsausschuss für christlich-jüdische Zusammenarbeit ausgingen und ausgehen. Der Ausschuss begeht heuer sein 65-jähriges Bestehen. Er hat nach der Shoa wesentlich dazu beigetragen, dass ein neues Verhältnis zwischen Judentum und Christentum in Österreich möglich wurde. Entscheidend war damals vor 65 Jahren die Bereitschaft jüdischer Mitglieder, sich gemeinsam mit Christen im Ausschuss für den Neubeginn zu engagieren, um gegenseitiges Vertrauen zwischen Juden und Christen aufzubauen. Seit einigen Jahren hat der Koordinierungsausschuss auch Beobachterstatus im Ökumenischen Rat der Kirchen in Österreich.