Bischof Scheuer: Grußwort zum 17. Jänner 2025 - Tag des Judentums
Der 17. Jänner – Tag des Judentums ist ein Tag der Dankbarkeit: Wir Christinnen und Christen sind dankbar, dass Jesus aus Nazareth als Sohn des jüdischen Volkes uns die Schöpferkraft, die Befreiung und die Barmherzigkeit des Einen und Einzigen Gottes, des Gottes Israels nahegebracht hat.
Der 17. Jänner ist zugleich ein Tag der Buße: Denn jahrhundertelang haben wir Christinnen und Christen und die Kirchen dieses Geschenk aus dem Judentum nicht als solches gewürdigt, sondern Gottes erwähltes Volk verachtet und seine Vertreibung und Vernichtung unterstützt.
Der Tag des Judentums ist auch ein Tag des Lernens: Ein Tag, an dem wir Kirchen versuchen, das Judentum kennenzulernen wie es sich selbst versteht. Ein Tag, bei dem wir auch vom Judentum lernen sollen. In diesem Jahr möchte ich einige Gedanken teilen, was wir Christinnen und Christen vom Judentum über das Lernen lernen können: als allgemeinen Auftrag, ein Leben lang und als Fundament für das richtige Tun.
Im Judentum wird eine Geschichte von Rabbi Hillel erzählt, einem weisen Lehrer. Er lebte etwa zwei Generationen vor Jesus, kurz vor der Zeitenwende. Ein Nichtjude stellte einmal eine Frage an Rabbi Hillel: „Wenn du mir die Lehre des Judentums vermitteln kannst, solange ich auf einem Bein stehen kann, werde ich zum Judentum übertreten.“ Der Weise antwortete: „Was dir nicht lieb ist, das tue auch deinem Nächsten nicht. Das ist die ganze Gesetz Gottes. Alles andere ist nur die Erläuterung.“ In diesem Sinn hat auch Jesus auf dieselbe Frage geantwortet (Mt 7,12).
Bei Rabbi Hillel ist die Geschichte noch nicht zu Ende. „Alles andere ist nur Erläuterung“, sagt er. Und dann: „Gehe hin und lerne sie.“ Das Lernen ist Teil der jüdischen Identität. Lernen ist der Weg, um Gottes Tora besser zu verstehen und umzusetzen, was sie hier und jetzt bedeutet. Studium soll dazu führen, das Richtige in unserer Zeit zu tun. Jüdisches Lernen ist kein Privileg von Auserwählten, von Priestern oder Rabbinern: Jede und jeder ist dazu berufen, jedes Alter, jedes Geschlecht, jeder soziale Stand. Den Stellenwert des Lernens zeigt die Vorschrift, die es traditionell erlaubt, eine Synagoge in eine Schule umzubauen, aber verbietet, eine Schule in eine Synagoge zu verwandeln. Die Tradition jüdischen Lernens überliefern auch die Evangelien. Sie erzählen von Gesprächen Jesu mit Pharisäern und Schriftgelehrten um die rechte Auslegung der Heiligen Weisung, der Tora vom Sinai. In ihrer bisweilen polemischen Tendenz spiegeln diese Diskussionen die angespannte Situation der frühen (jüdischen!) Gemeinden der Jesus-Anhängerschaft zum Ende des 1. Jahrhunderts; verstärkt noch in späteren Zeiten durch eine bewusst antijüdische Auslegung in der Kirche. Heute erkennen wir: Auch die jüdische Diskussion bemüht sich um eine lebensnahe Auslegung des Sabbats (mit Bezug auf Ex 31,14 und Lev 18,5); auch die rabbinische Auslegung kennt Nächsten- und Feindesliebe. Bisweilen können wir das bis heute immer noch nicht würdigen, sondern meinen, Jesus hätte mit einer neuen Lehre das Judentum überboten. Diese Ansicht ist klar zurückzuweisen. Jüdisches Lernen ist das Ergebnis von Dialog: „Was ist die Bedeutung dessen, was geschrieben steht? ‚Eisen schärft das Eisen, genauso wie der Mensch das Antlitz seines Freundes schärft‘ (Spr 27,17)?“ Dieser Vers soll sagen: Ebenso wie bei diesen eisernen Werkzeugen das eine das andere schärft, wenn sie aneinander gerieben werden, so schärfen auch Toragelehrte einander in der Halacha (der Überlieferung), wenn sie zusammen studieren. (vgl. Bavli Taanit 7a)
Das Lernen wird oft als Lernen zwischen Gleichgesinnten angesehen, die beide gemäß ihrem eigenen Wissen und ihrer eigenen Logik nach der Wahrheit streben. Das Gegenüber des Studiums sind die Texte der Heiligen Schrift, des Talmud und anderer Auslegungen. Die Lehrerin oder der Lehrer begleiten; sie sind nicht jene, die bereits alles wissen und das fertige Wissen nun weitergeben. Der starke individuelle Bezug zum Lernen bringt natürlich individuelle Ergebnisse hervor, bisweilen stak kontroversiell zu anderen. Vielfalt ist das Merkmal jüdischen Lernens und die Bereitschaft, im weiteren Studium das Bisherige auch wieder in Frage zu stellen und zu ändern.
In jüdischen Gebetbüchern ist der Beginn der Mischna zitiert, einem Werk, das versucht, die Traditionen der mündlichen Tora, wie sie der Überlieferung zufolge auf dem Berg Sinai übergeben wurden, zu sammeln und zu bestätigen. Er zeigt, wie wichtig das Studium und wie verwoben das Studium mit gelebter Nächstenliebe im Alltag sind. „Dies sind die Dinge, die einem auf dieser Welt zum Vorteil werden, doch die wahre Belohnung ist in der kommenden Welt – Mutter und Vater ehren; anderen Menschen mit Liebe begegnen; morgens und abends das Haus des Studiums aufsuchen; Gastfreundschaft; die Kranken besuchen; Mädchen bei der Verheiratung helfen; an Beerdigungen teilnehmen; sich auf das Gebet konzentrieren; Frieden zwischen Menschen stiften (und zwischen einem Ehemann und seiner Ehefrau); doch das Studium der Tora übertrifft sie alle.“ (https://www.juedische-allgemeine.de/religion/lernen-fuers-leben/ 06.12.2024)
Im Talmud wird erzählt: „Einst waren Rabbi Tryphon und die Ältesten im Söller des Hauses Nithza in Lud versammelt. Und es wurde da die Frage aufgeworfen, ob das Studium oder die Tat bedeutender sei. Da begann Rabbi A͑qiba und sprach: Das Studium ist bedeutender. Hierauf stimmt alles zu, dass das Studium von Bedeutung ist: Denn das Studium bringt zur Tat.“ (Bavli Kidushin 40b)
Jüdisches Torastudium ist nicht nur Auswendiglernen; es ist ein Lernen, wie man lernt. Das schafft eine Grundlage für alle anderen Gebiete, bei denen es gilt, sich Wissen anzueignen. Und das Lernen bis ins Alter hinein bewahrt vor Routine und Senilität.
Manche von uns haben ihren christlichen Glauben noch im Mitgehen gelernt, man wächst in eine gute Gewohnheit hinein. Ein lebensnaher Religionsunterricht unterstützt das Elternhaus. Andere finden in den Absätzen des Katechismus einen Weg der Glaubenslehre. Dies hat manches für sich; es ist unsere Tradition der Glaubensvermittlung. Der Weg des Judentums kann dazu jedoch hilfreich und anregend sein, uns neue Einsichten bringen und unsere Kraft stärken, vom Heil zu erzählen in einer Welt, die die Selbstverständlichkeiten des Glaubens nicht mehr kennt. Und nicht zuletzt, weil auch Jesus so gelernt hat. Wenn ich empfehle, unser Lernen mit der Heiligen Schrift zu beginnen, so meine ich damit selbstverständlich auch das Erste Testament, die Gute Weisung, die Heilige Tora. Denn sie ist die Quelle, aus der Jesus schöpfte. Als ceterum censeo möchte ich auch in diesem Jahr wieder auf die Auslegungen der Sonntagslesungen „Mit Israel gelesen“ des Schweizerischen. Katholischen Bibelwerks hinweisen: www.bibelwerk.ch. Diese decken das ganze Kirchenjahr ab. Materialien zum „17. Jänner – Tag des Judentums“ in Österreich finden sich auf der Website des Koordinierungsausschusses für christlich-jüdische Zusammenarbeit www.christenudjuden.org